Besetzung: für Klavier zu zwei Händen
Entstehung: zwischen dem 2. Januar 2011 und dem 25. Juli 2012
Aufführungsdauer des Gesamtzyklus: ca. 34 Minuten

 

Notizen zum Werk:

Die 5mal5 kurzen Intermezzi für Klavier zweihändig bilden einen wichtigen Teil der sogenannten »Harmonielehre« op. 22, die Staars »persönlicher Beitrag zur Weiterentwicklung der Harmonik« ist. (siehe auch Metamorphosen eines Labyrinths op. 22a, Versunkene Träume op. 22c, La Fontaine de Sang op. 22b, Hammabbul op. 22g, Time Reycling op. 22n etc.)

Diese 25 Stücke waren auch das harmonische Experimentierfeld für das Orchesterwerk Time Recycling op. 22n. Aufgrund der zugrundeliegenden harmonischen Struktur wurde dieser Zyklus deshalb in 5 mal 5 Abschnitte eingeteilt. In jedem Abschnitt wird eine Akkordverbindung systematisch untersucht und seziert. Die Herausforderung bestand darin, aus einem abstrakten Material sinnvolle musikalische Gedanken und Stücke zu formen. Vage Hinweise auf Momente der Inspiration liefern dezente, Gehalt und Substanz der Stücke andeutende Untertitel – ähnlich den Untertiteln, die Debussy seinen Préludes angedeihen lässt. Die Balance zwischen einem strukturellen Experiment und differenzierten musikalischen Gedanken ist eine sehr diffizile Angelegenheit und erfordert genaues Abwägen der Komponenten.

Fünf Minizyklen von ca. 5–8 Minuten Länge bilden zusammen genommen einen langen Zyklus von etwa 34 Minuten reiner Spielzeit. Dabei steht jedes Stück mit eigenem Untertitel für sich alleine, aber es kann – gemeinsam mit anderen – auch als Klein- oder Großzyklus aufgeführt werden (Vorschläge des Komponisten siehe unten).

Der erste Minizyklus ist dem Pianisten Johannes Marian gewidmet, dem langjährigen Partner Staars bei Konzerten des Ensemble Wiener Collage.

Johannes Marian gewidmet    
Nr. 1  Erwachen aus den Träumen 1'14''
Nr. 2  Der gelenkte Mensch 3'52''
Nr. 3  Ein Moment der Flüchtigkeit 1'10''
Nr. 4  Muskelspiel 0'42''
Nr. 5  Fluchtversuch 1'02''
    (Gesamtdauer: ca. 8 Minuten)  

Im ersten Minizyklus wird ein fünfstimmiger Akkord (bestehend aus vier übereinandergelagerten Intervallen: zwei kleinen Sexten, einer kleinen Terz und einem Tritonus) auf die Kombinationsfähigkeit seiner aus vielfältigen Transpositions-, Umkehrungs- und Dispositionsprozessen gewonnenen Ableger hin untersucht. Im ersten Stück erscheinen dabei die musikalische Gedanken lose und durch Pausen unterbrochen, quasi sinnierend schreitet das Stück fort - daher auch der Untertitel »Erwachen aus den Träumen«, da das Stück gleichermaßen Vorstellung und Programm für den gesamten Minizyklus enthält. Der frühlingshafte Charakter des Stückleins tut ein Übriges dazu, den Untertitel zu rechtfertigen. Das Spiel mit mechanischen, roboterhaft gestalteten Elementen steht in der Nr. 2 (»Der gelenkte Mensch«) im Vordergrund. Hier wendet der Komponist seine bereits in den Bagatellen op. 14/3a entwickelte Temporelationsrhythmik konsequent als Kontrastmittel an - zur Differenzierung der eckigen, hin und her pulsierenden Impulse. Der Untertitel der Nr. 3 - »Ein Moment der Flüchtigkeit« - gibt eigentlich bereits den Charakter des Werks vor, der stets treibende Aspekt steht dabei im Vordergrund, das Stück endet ebenso unvermittelt, wie es begonnen hat. Eine Akkord- und Kraftorgie dominiert das kurze, mit dem Untertitel »Muskelspiel« versehene 4. Stück, während das letzte (Nr. 5) von dem - musikalisch ausgedrückten - vergeblichen Streben nach Freiheit aus eingezwängten Verhältnissen geprägt wird. Daher auch der Untertitel »Fluchtversuch«.

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II    
Nr. 1 (6)  Vergängliche Herrschaft – gemeißelt in Stein 1'20''
Nr. 2 (7)  Unbestimmte Momente zw.  0'42'' und 1'26'
Nr. 3 (8)  Plötzliche Erinnerung an … 0'36''
Nr. 4 (9)  … neue Ufer  0'38''
Nr. 5 (10) Sprung über die Klippen 0'20''
      (Gesamtdauer: ca. 4 Minuten)  

Kürzer als der erste Minizyklus ist der zweite, der nun mit Varianten eines anderen fünfstimmigen Akkords, der aus einer großen Terz, einer reinen Quart, einem Tritonus und einer kleinen Sext besteht, arbeitet. Das längste der Stücke ist das erste, das in seiner rhythmisch erratischen Struktur an Stelen erinnert, in die Pharaonen und andere altorientalische Herrscher ihre Taten meißeln ließen, was seinen Ausdruck auch im Titel findet. Das Stück besteht fast zur Gänze aus homophonen fünfstimmigen Akkorden, die hauptsächlich durch die Lage und durch Abfolge von langen und kurzen Noten (wie im Morsealphabet) besteht – die Repetition von Akkorden wird hier als musikalischer Code des Einmeißelns von Informationen in Stein genutzt. Das zweite Stück gestaltet die seltsame Ziellosigkeit zweier ergänzender musikalischer Linien. Das Stück kann - muss aber nicht – transponiert wiederholt werden, entweder um einen Ganz- oder Halbton nach unten oder nach oben. Dadurch wird die Unbestimmtheit dieses Stücks weiter betont, die sich auch im dritten der kurzen Intermezzi dieses Zyklus fortsetzt. Wie die Transpositionsvarianten ausgeführt werden sollen, stellt eine eigene Anweisung an den interpreten dar. Eine Erinnerung (im dritten Stück) scheint einzusetzen, um immer wieder unterbrochen zu werden, denn an wen wir uns erinnern, das versuchen wir ohne großen Erfolg zu ergründen. Das Spiel mit dem »Vagen« zieht sich über den gesamten Zyklus. Auch wenn wir im 4. Stück neue Ufer zu erreichen vermeinen, so lässt uns das bizarr anmutende letzte (fünfte) Stück über die Klippen springen.

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III
   
Nr. 1 (11) … Vakuum …  1'40''
Nr. 2 (12) Hoffnungslos zärtlich 1'25''
Nr. 3 (13) Erinnerungen an glückliche Momente 1'08''
Nr. 4 (14) Neuer Drang – neue Zärtlichkeit 1'57''
Nr. 5 (15) Verliebter Clown (stiehlt sich heimlich davon) 0'30''
    (Gesamtdauer: ca. 6 Minuten 40)  

Der hier dem 3. Minizyklus zugrundeliegende fünfstimmige Akkord besteht aus eine kleinen Sekund, einem Tritonus, einer reinen Quint und einer kleinen Sext. Das erste Stück besteht aus lange gehaltene, durch Pausen getrennte Akkorde in verschiedenen Lagen und verschiedener Dynamik. Mit einem Mal verschwinden die Pausen, die am Ende des Stücks wieder auftauchen, dann jedoch Folgen von zwei Akkorden unterbrechen. Der Untertitel des zweiten Stücks »Hoffnungslos zärtlich« bezieht sich ausschließlich auf das Ende des Stücks, vor allem auf die letzen fünf Takte, während der überwiegende Teil des Stücks aus sperrigen Wiederholungen der aus dem Grundmaterial gewonnenen Akkorde besteht. Der Titel des dritten Stücks bezieht sich hingegen auf Andeutungen barocker Ornamentik, die in vielfältiger Weise in diesem Stück so verarbeitet werden, dass sie dem Hörer kaum als Verzierung erscheint. Die Großzügigkeit der musikalischen Linien und der dabei gewonnene spielerische Drang nach vorne bestimmen das 4. Stück., während sich die bizarre selbstironische Art des letzten der 5 Stücke dieses Zyklus sich auf den Clown selbst und seine eigene nicht ganz ernst genommene Verliebtheit bezieht, die sich mit bizarr anmutender Gestik ausdrückt. Der Clown übertreibt seine eigenen Gefühle, um sie quasi als absurde Komödie zu verstecken. Die dabei unterschwellig ausgedrückte Melancholie aus vergeblicher, heimlicher Liebe drückt sich vor allem in den letzten sechs Takten des Stücks aus. Mit seinen lächerlich anmutenden übertriebenen Aktionen versteckt der Clown seinen übergroßen Schmerz.

* * *

IV
   
Nr. 1 (16) Scheue Annäherung 1'18''
Nr. 2 (17) … Hochzeitsglocken … 1'20''
Nr. 3 (18) »Erwartung« 2'20''
Nr. 4 (19) Nervöses Verlangen 1'10''
Nr. 5 (20) Gewissheit und Zweifel 0'43''
    (Gesamtdauer: ca. 7 Minuten)  

Der vierte Minizyklus wird harmonisch bestimmt durch Kombinationen der beiden Akkorde, die im ersten und zweiten Minizyklus durchleuchtet wurden. Verdichtungsprozesse von linearen musikalischen Gestalten hin zu homophonen aufsteigenden Tönen bestimmen den Ablauf des ersten Stücks. Die aufsteigenden Phrasen, die das eher leise Stück prägen, erscheinen zunächst sehr sprunghaft und beruhigen sich zum Ende hin auf einen ganz leise verklingenden sanften Anstieg, als ob man zu jemandem in großer Zuneigung aufsieht. Wie die Liebe überhaupt das unterschwellig angedeutete Thema dieses vierten Minizyklus ist. Die glockenartig prächtige Jubelstimmung der homophonen Akkorde des 2. Stücks suggeriert das Glockenspiel einer niederländischen Kirche. Zwischen dem Duo Oberstimme-Bassstimme im dritten Stück drücken die restlichen drei Töne der insgesamt fünfstimmigen Faktur die spannungsvolle Erwartung zweier Liebender aus. Im vierten Stück steigert sich diese dann zum nervösen hektischen Paarungsverhalten, während die beruhigende Gewissheit des Vertrauens im fünften und letzten Stück doch einen Hauch leisen Zweifels gerade an entscheidenden Stellen des Stücks nicht unterdrücken kann - dies alles kann als umschriebene Deutung der ersten gemeinsamen Tage eines jungen Paars angesehen werden. So werden hier in diesem Minizyklus vielleicht die Untertitel wichtiger als in den anderen kleinen Zyklen dieser Intermezzi.

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V    
Nr. 1 (21) Qoufu Reminiscences 1'10''
Nr. 2 (22) Geschwätzigkeit 1'25''
Nr. 3 (23) Cholerischer Neid (Portrait einer Büroangestellten) 1'45''
Nr. 4 (24) Moderner Tanz ohne Choreographie 1'50''
Nr. 5 (25) … steigt zur Sonne auf … 0'25''
    (Gesamtdauer: ca. 7 Minuten)  

Die Akkordkombinationen der (im ersten und im dritten Minizklus verarbeiteten) Akkorde sind hier die harmonische Grundlage der Komposition dieses letzten Minizyklus. Hat der vierte Minizyklus die Liebe eines jungen Paares thematisiert, so wird nun die Lebensfreude symbolisiert, wobei jedoch als kleine Störung im 3. Stück auch der Neid auf diese Lebensfreude seinen Platz einnimmt. So ist der Tanz das bestimmende Element des ersten Stücks. Der Kontrast von Duole und Triole, prägt die Habanera – in »Qoufu Reminiscences« wird dieser Kontrast in einem 5/4-Schema angewendet, wobei die Duole im Zentrum, auf der 3. Viertel des Takts steht, alle anderen Taktteile sind triolig ausgeformt. Das ganze Stück ist homophon fünfstimmig gearbeitet. Die Freude an der unverbindlichen Konversation mit wenig Inhalt bestimmt die formale Unverbindlichkeit des zweiten Stücks. Der cholerische Neid, wie er zuweilen unterinformierten, von Entscheidungen abgeschnittenen Büromenschen eigen ist, bestimmt den Verlauf des 3. Stücks vom innerlich angestauten Hass bis hin zur eruptiv giftigen Entladung des missgünstigen Individuums. Das tänzerische Element wird im 4. Stück wieder aktiv, hier jedoch als auskomponierte gleichzeitig ablaufende tänzerische Elemente, die leicht schwingend gegeneinander verschoben werden, bis sie sich am Ende zu gemeinsamen Fünfklängen vereinen. Der Titel des letzten Stücks bezieht sich vor allem auf die letzten vier Takte des Stücks, der Rest des Stücks wird von spielerisch fröhlichen rhythmischen Figuren dominiert.

 

Trotz der scheinbar programmatischen Struktur der Stücke sind alle Intermezzi im Grunde Experimentierfelder für jene harmonischen Verbindungen, aus denen ich danach das Grundmaterial meines Orchesterwerks Time Recycling op. 22n (Kompositionsauftrag der Wiener Philharmoniker) ausgewählt habe.

 

Jede beliebige Auswahl und Kombination der Stücke ist vom Komponisten autorisiert. Es kann sowohl jeder Minizyjklus für sich stehen, aber auch verschiedene andere Kombinationen sind denkbar. Aus Gründen harmonischer Logik erscheinen Kombinationen wie die ersten Stücke jedes Zyklus (also 1-6-11-16-21) oder der zweiten Stücke (2-7-12-17-22) zwingend. Aber auch 1-7-13-19-25 und 21-17-13-9-5 (auch beides zusammen mit zweimaliger Interpretation der Nr. 13) erscheinen aus harmonischen Erwägungen heraus logisch. Weitere Vorschläge:

Nr 2-6-10-14-23

oder

Nr 3-7-9-11-20

oder 

Nr 5-8-21-22-24

oder 

Nr 15-17-1-25