Mein kompositorisches Werk wurzelt in einer sich stets fortsetzenden Linie von Bach über Schönberg bis heute: die großen Komponisten dieser Traditionslinie haben ihre Spuren in meinem Werk hinterlassen.

Als »Frühwerk« könnte man alle meine bis etwa 1981 komponierten Werke bis inklusive Op. 6, sowie die Miniaturen aus dem ersten Band der Violinschule op. 26 und die daraus später entstandenen Bearbeitungen wie z. B. das Balkan-Mosaik bezeichnen (wenngleich die harmonischen Eingriffe dieser Bearbeitungen den Erfahrungsreichtum eines älteren Komponisten erfordern). Sie alle zeichnen sich durch freitonale und quasi improvisatorische Elemente aus, fallweise auch Zitate aus älterer Musik aufgreifend.

Seit 1980 beschäftigen mich mehr und mehr strukturelle Verarbeitungsprozesse im weitesten Sinne, da diese mich sowohl theoretisch als auch vom Hören her zu einer ganz eigenen Harmonik und in der Folge auch Gestik geführt haben. Zunächst richtete ich das Augenmerk auf die verschiedenen Qualitäten der Intervalle innerhalb diverser Akkordfolgen. Zwei Phasen können dabei unterschieden werden: die erste ist geprägt durch eine Annäherungen an die Ideen der Wiener Schule, wobei jedoch weniger die Dodekaphonie als die durch Reihenbildungen hervorgebrachten harmonikalen Fortschreitungen im Vordergrund standen. Hier muss ich eine später immer stärker werdende Vorliebe für Fünfklänge gestehen! In dieser Phase entstehen die Opera 7-9, die beiden ersten Divertissements Suisses op. 10 sowie mehrere Sätze des 3. und 4. Divertissement Suisses (op. 10/1-4) und das Klaviertrio op. 11/1, die Kyrie-Vertonungen für Chor a capella aus op. 12, der erste Teil des Wachsenden Schlosses (Fragmente eines Traumspiels), die Sorgemusik för Olof Palme op. 13a und Ständchen und Sitzchen Ernst Krenek zum Geburtstag op. 14/1a-b.

Die späte Begegnung mit der Avantgarde der 1950er Jahre, als dessen prominenteste Vertreter Stockhausen, Nono, Boulez, Xenakis, Haubenstock-Ramati und Ligeti gelten können, führte etwa 1985 zu einer sukzessiven Neuorientierung. Obzwar mir diese Komponisten bereits zuvor bekannt waren, hatte ich bis dahin weder als Interpret noch als Komponist Möglichkeiten, mich schöpferisch mit der Musik dieser Komponisten auseinanderzusetzen.

Man kann diesen neuen Impuls bereits im Halbthurn Capriccioso per Roberto op. 14/2, im Werk Da stehn wir mit Spiegeln ... und fangen auf I und II (aus op. 15), der Orgelvision op. 17/1, der Komposition ... Ich bin es, ohne dass es mir gleicht ... für Sopran, Bariton und Kammerensemble op. 19 (zur Überarbeitung zurückgezogen), den Liedern op. 20 und den Colliding movements op. 21/1 spüren. Doch erst die nun folgenden Werke sollten die neuen Erkenntnisse auch kompositorisch vollkommen greifbar machen und auch über sie hinauswachsen.

Die Bagatellen auf den Namen György Ligeti op. 14/3a aus den Jahren 1989-1996 sind das Protokoll einer Annäherung und einer Abwendung von dessen Schaffen. Die 15 Gemini Duos op. 24 A1-A15, B1) sind ein Experimentierfeld der Beziehung zweier vierstimmiger Akkorde zueinander.

Diese beiden Entwicklungsschübe wurden für mein Schaffen seit den 1990er Jahren impulsgebend. Akkorddispositionen (d. h. die Umschichtung der Intervalle eines Akkords) und eine durch die Relationen verschiedener Tempi geprägte Rhythmik prägen von nun an meine Werke.

Eine weitere Besonderheit ist, dass ich Einzelwerke gerne zu Zyklen zusammenfasse, auch wenn sie verschiedenen Werkgattungen angehören. Der bislang umfangsreichste dieser Zyklen ist meine imaginäre "Harmonielehre", mein Opus 22, das als progressive Mammutstudie so wichtige Werke umfasst wie die Metamorphosen eines Labyrinths op. 22a, La Fontaine de Sang op. 22b, Versunkene Träume op. 22c, Metropolitan Midnight Music op. 22d, Klischees op. 22e, Descendances imaginaires op. 22f, das Oratorium Hammabbul op. 22g, Inventionen op. 22h, Der Tag nach dem Regen op. 22i, die 5x5 (also 25) kurzen Intermezzi für Klavier op. 22j die Fantastic Dances op. 22l, den Prolog eines Namenlosen op. 22m und Time Recycling op 22n.

Andere Zyklen werden fortgesetzt, so die Hommagen op. 14.

In den nun entstehenden Werken werden die harmonischen Beziehungen immer reicher, ja gliedern sich einander durchdringend nach Gesichtspunkten, die Umkehrungen, Transpositionen und Dispositionen gleichermaßen berücksichtigen. Das gilt z. B. für die Minotaurus-Studie op. 23a, den 2. Band der Miniaturen für die Violinschule op. 26 II, die Studies for Strings op. 27, die Studies for Winds op. 29, Europafanfaren op. 28, PreFan (op. 28 bis), das Adagio in memoriam Nino Lo Bello (aus Quintette op. 32), Monumentum pro Thomas Alva Edison op. 34 und Cat Music op. 38.

Eine eigenständige Harmonielehre entwickelt sich gerade in dem obengenannten Werkzyklus op. 22.
Die Idee einer harmonischen Neugestaltung der populären Musik mit Hilfe der harmonikalen Mittel, die uns heute zur Verfügung stehen, gerierte zum Projekt POP revolution, das nicht einzig durch ein Werk, sondern durch eine Idee, die beständig in neuen Stücken weiterentwickelt wird, sein Potential erkennen lässt. Das erklärt die beachtliche Zahl von Werken an der Grenze zur Unterhaltungsmusik, und die vielen Arrangements, sowie Werke mit parodistischen Elementen (z. B. April op. 3 oder eine Fata Morgana auf den Kopf gestellt).

Bis hin zu Möglichkeiten der Mikrotonalität reicht dabei die harmonische Entwicklung, wobei mir die Problematik, diese Intervallbildungen durch das Ohr vollständig kontrollieren zu können, bewusst ist. Differenzierte Lösungsvorschläge lassen sich aus den Descendances imaginaires op. 22f, den Inventionen op. 22h, aber auch aus dem - einem anderen Zyklus (op. 26) zugehörigen - ViolinMicroMix op. 26 I ableiten.

In gewisser Weise gehören zu diesem Ideenkomplex auch die Kompositionen für traditionelles japanisches Instrumentarium und Violine, Kodai-no-ibuki aus Rinne Ten-Sho op. 30, sowie Moyo op. 31.

René Staar, Dezember 2015