Die »Perspektiven paralleler und gegenläufiger Prozesse« sind eine Unterabteilung des größeren Zyklus Studien für Bläser op. 29. Sie können entweder einzeln, als Zyklus oder auch gemischt mit den anderen Bläserstudien op. 29 gespielt werden.

August Strindbergs Novelle Einsam (Ensam), in der sich nach Jahrzehnten alte Freunde wieder treffen und feststellen, wie weit sie sich in der Zwischenzeit voneinander entfernt haben, inspirierte mich zu diesem Werkzyklus.

Ähnlich wie das Leben die Perspektiven immer wieder verschiebt, kann man sich treibende Schilfinseln in bewegtem Gewässer vorstellen, die man aus einiger Entfernung sieht. Die Inseln treiben aufeinander zu, scheinen sich in der Perspektive des Beobachters zu treffen, obzwar sie nur aneinander vorbeitreiben, um sich wieder zu trennen. 

Ich habe dieses lebende Bild in musikalische Inseln zu übersetzen versucht, in denen die Perspektive und der Wandel das fließende Geschehen dominieren. Musikalisch scheinbar feststehende Gedanken werden isoliert dargestellt, verschränkt und wieder getrennt, und dabei wird auch manifest, dass sich nicht nur diese scheinbar feststehenden Zellen verändern, sondern auch das Umfeld, die Form und das Tempo. Auch die Dynamik ist permanenten Veränderungen unterworfen.

Der Zyklus besteht bislang aus:

Perspektiven paralleler und gegenläufiger Prozesse I op. 29 I Nr. 1 (2007)

»Für Vasile Marian«

Besetzung: für Oboe solo
Aufführungsdauer: 2'30''
Uraufführung: am 10. Februar 2008 im ASC durch Vasile Marian 

Erschienen bei Edition Contemp Art (Verlagsgruppe Hermann),
erhältlich über www.schott-music.com
Bestellnummer: VGH 1571-70

In dieser Studie für Solo-Oboe unterzieht sich ein kurzes dreitaktiges rhythmisches Motiv – bestehend aus punktierter Achtel, Achtel, zwei Sechzehnteln, Achtel, punktierter Achtel – andauernden Wandlungen. Betrachtet man das Motiv, so fällt auf, dass sich die Notenwerte hin zum Zentrum der zwei Sechzehntel verkürzen, um sich anschließend krebsartig wieder auszudehnen. Diese Metamorphosen gehen so weit, dass man am Ende des Stücks die Gestalt des ursprünglichen Motivs nicht mehr wiedererkennen kann.

 

 

Perspektiven paralleler und gegenläufiger Prozesse II op. 29 II C Nr. 1 (2009)

Besetzung: für B-Klarinette und Tenorsaxophon in B
Aufführungsdauer
: 1'35''

Uraufführung: am 9. Februar 2010 in Wien  Stefan Neubauer und Peter Rohrsdorfer

Die Duostudie für Klarinette und Tenorsaxophon transportiert die in der Quartettstudie für Altsaxophon, Trompete und zwei Posaunen erworbenen Erkenntnisse in eine Duobesetzung, wobei hier der häufigere Gebrauch mit Tetrachorden und längeren Phrasen auffällt.

 


Perspektiven paralleler und gegenläufiger Prozesse III op. 29 IV H Nr. 1 (2007)

Besetzung: für Altsaxophon, Trompete und zwei Posaunen
Aufführungsdauer: 3'19''
Uraufführung: am 13. November 2007 bei Wien Modern im Musikverein durch das EWC unter René Staar

Erschienen bei Edition Contemp Art (Verlagsgruppe Hermann),
erhältlich über www.schott-music.com
Bestellnummer: VGH 1572-71 (Partitur und Stimmen)

Die Quartettstudie für Altsaxophon, Trompete und zwei Posaunen beschäftigt sich mit Verschiebungen rhythmisch determinierter Floskeln vor allem durch zwei Tandems (das von Altsaxophon und Trompete, und das der zwei Posaunen) und verarbeitet diese ebenfalls in mannigfaltigen Wandlungsprozessen.

 

Perspektiven paralleler und gegenläufiger Prozesse IV op. 29 IV J Nr. 1 (2023/24)

Besetzung: Flöte, Oboe, B-Klarinette und Fagott
Aufführungsdauer: 5‘47“

Im Gegensatz zu den vorangehenden Stücken dieses Zyklus beschränken sich die Verschiebungen hier fast ausschließlich auf die innere Intervallik und Veränderungen, die sich aus dem Wechsel zwischen Drei- und Vierstimmigkeit ergeben.

Nachdem das Stück weitestgehend homophon ist, gibt es kaum Gelegenheiten, Strukturen gegeneinander zu schieben, obwohl der Stückbeginn dies suggerieren könnte. Es sind eher subtile innere Perspektivenwechsel, z.B. in der Wahl der Lagen oder der harmonischen Mittel, oder auch in Art der Artikulation und der Dauern der einzelnen harmonischen Flächen - wobei nicht von Flächen gesprochen werden dürfte, denn jede Harmonie wird durch schnelle Repetierungen und Trillerumspielungen zersetzt, sodass der Eindruck eines raschen Tempos entsteht, das von jedem Spieler äußerstes Können und große Virtuosität einfordert.

Das dreiteilige Stück lässt sich in einen Expositionsteil, bei dem eher kleine, zum Teil repetierte Intervalle und skalenartige Strukturen im Vordergrund stehen, und in einen von weiten Intervallsprüngen gekennzeichneten Teil gliedern. Der Reprisenteil nimmt die rhythmischen Elemente der Exposition wieder auf, jedoch in veränderter Harmonik. In der Coda wird ein retardierender Effekt durch eine rhythmische Verlangsamung, aber auch durch einen Ausdünnung der Dynamik und eine extrem weite Lage erreicht. (René Staar, am 12. Januar 2024)