Portrait d’une famille suisse
Porträt einer Schweizer Familie

 

À la famille Gilg et Schneider
Der Familie Gilg und Schneider herzlichst zugeeignet


Besetzung: für Klarinette, Baritonsaxophon, Alphorn und Streichsextett
Entstehung: in Luzern und Wien zwischen Juli 2022 und dem 25. Dezember 2023
Aufführungsdauer: ca. 45 Minuten


    I Panorama 1 : Un joueur de cor des Alpes à l’église de Rifferswil
(Ein Alphornbläser an der Rifferswiler Kirche)
Vienne, décembre 2022, duration 1‘16“

    II Une vie en accéléré (Bernhard)
(Ein Leben in Beschleunigung)
Vienne, le 20 janvier 2023, duration 2‘32“

    III Portrait d’une dame avec la pipe sur la chaise-longue (Ruth)
(Portrait einer Dame mit Pfeife auf der Chaiselongue)
Vienne, le 1er mars 2023, duration 4‘53“ 

    IV Panorama 2 : Joueurs de cor des Alpes sur le lac de Lucerne
(Alphornbläser am Vierwaldstätter See)
Vienne, le 6 mars, 2023, duration 1‘

    V Un enfant suisse en grand voyage de découverte (Adelheid)
(Ein Schweizer Kind auf großer Entdeckungsfahrt)
Vienne, le 20 avril 2023, duration 2‘25“)

    VI Un gardien et protecteur avec du cœur et de l’humour (Felix)
(Bewahrer und Beschützer mit Mut und Humor)
Vienne, le 14 mai 2023, duration 5‘05“

    VII Panorama 3 : Randonnée dans la neige entre Rifferswil et Knonau
(Schneewanderung zwischen Rifferswil und Knonau)
Vienne, le 1er juillet 2023, duration 0‘54“

    VIII Vivre entre tradition et modernité (Thomas)
(Ein Leben zwischen Tradition und Moderne)
Vienne, le 28 juillet 2023, duration 4‘40“

    IX Panorama 4 : Beatenberg: Une vue sur les glaciers de l’Eiger, du Mönch et de la Jungfrau
(Beatenberg: Ein Blick auf die Gletscher des Eiger, von Mönch und Jungfrau)
Vienne, le 29 juillet, 2023, duration 0‘40“

    X La curiosité pour l’histoire et l’actualité (Oliver)
(Die Neugier auf Geschichte und Gegenwart)
Vienne, le 1er septembre 2023, duration 3‘35“

    XI Une approche lente et ludique dans les nuages de la sensibilité (Susanna)
(Langsame und spielerische Annäherung im Dunst der Sensibilität)
Vienne, le 24 septembre 2023: duration 4‘02

    XII La guérison de la nature et de l’âme (Pascal)
(Die Heilung der Natur und der Seele)
Vienne, le 8 octobre 2023, duration 5‘36“

    XIII Panorama 5 Le Mont Blanc et la Bise
(Der Mont Blanc und die Bise)
Vienne, le 11 octobre 2023, duration 0‘25“

    XIV Un médecin passionnée et un cuisinier gourmet (Adelheid et Felix)
(Die leidenschaftliche Ärztin und ein Gourmetkoch)'
Vienne, le 30 octobre 2023, duration 2‘30“

    XV Les amis de la famille (Dr. Reto Cadisch, „Ricarda“ Kolkmann, Benno Hegi, Prof. Dr. Bruno Truniger)
(Die Freunde der Familie)
'Vienne, le 17 décembre 2023, duration 5‘14“

    XVI Vue sur les Alpes au départ de l’avion
(Blick auf die Alpen beim Abflug)
Vienne, le 25 décembre 2023, duration 1‘29

 

Notizen zum Werk:

Das sechste und letzte der sechs Divertissements Suisses op. 10 No.6 wurde in den Jahren 2022 und 2023 geschrieben. Es ist mit seinen 16 Sätzen, mehr als 130 Partiturseiten und 1500 Takten, einer Nonettbesetzung (die allerdings auch mit sieben Spielern aufgeführt werden kann, sofern der Bläser alle drei Instrumente beherrscht) und einer Aufführungsdauer von über 45 Minuten das bei weitem umfangreichste Werk dieses Zyklus, sozusagen als Krönung einer diesem Zyklus innewohnenden Entwicklung einer harmonischen Idee.

Es entstand als Auftragswerk des befreundeten Ehepaars Adelheid und Felix Schneider-Gilg, die sich so als Privatmäzene dem Werk von René Staar einschrieben.

Die sechs Einzelsätze mit dem Titel „Panorama 1–6“ bilden das Skelett des Divertissements. Es sind Erinnerungen und Träume an die Schweizer Landschaft, seine Berge und seine Natur. Sie fungieren als spirituelle Impulse für dieses vielschichtige Divertissement, dessen vielfältige Einfälle sich aus vorgeformten harmonischen Prozessen entwickeln. In diesen Panorama-Sätzen öffnet sich die Perspektive auf die Innensätze des Werks, die als Porträts der Familienmitglieder locker gehaltene Tanzsätze miteinander verbinden.

Der erste größere musikalische Teil umfasst die ersten drei Sätze. Der 1. Satz (das Panorama 1) ist inspiriert vom Erlebnis eines Alphornsolos (Un joueur de cor des Alpes à l’église de Rifferswil) beim Begräbnis von Ruth Gilg-Ludwig, und er geht attacca über in den 2. Satz, ein Porträt von Bernhard Gilg, einem anerkannten Schweizer Ingenieur und Erbauer von Staudämmen in den 1950er Jahren in den Schweizer Alpen, dem Vorderen Orient und in Südamerika. Dieser Satz mit dem Titel „Une vie en accéléré“ (Ein Leben in Beschleunigung) besteht aus den Teilen Arpentage“ (Begehung), „Conception“ (Planung), „Construction“ (Erbauung) und „Monument“ (Monument), ganz so wie ein Ingenieur die unterschiedlichen Phasen der Errichtung eines großen Bauwerks unterteilt.

Der darauffolgende 3. Satz mit dem Titel „Portrait d’une dame avec la pipe sur la chaise-longue“ (Dame mit Pfeife auf der Chaiselongue) ist seiner zuweilen exzentrisch anmutenden Frau Ruth Gilg-Ludwig gewidmet. Der Titel des Satzes bezieht sich auf die Momente, in denen es sich die Dame des Hauses nach dem Mittagessen auf ihrem Sofa bei der Lektüre der Zürcher Zeitung gemütlich machte und eine Pfeife ansteckte. Sie war eine überaus aktive Pädagogin, Direktorin einer Privatschule in Zürich und interessiert am Zeitgeschehen und an kulturellen Ereignissen. Die Teile dieses Satzes wollen ihren vielfältigen Aktivitäten nachspüren, von ihren Gartenfesten („Une fête dans le jardin“) bis zu ihren pädagogischen Kooperationsprojekten in Kirgisien, Indien und Nigeria (charakterisiert durch die Teile „Danse Kirghiz“, „Les Odeurs de l’Indie“ und „Juju“, einem nigerianischen, stark synkopierten Tanz). Der Satz schließt mit dem kurzen Teil „Le dernier domicile de Mme Ludwig“ ab. Mme. Ludwig war die Mutter von Ruth, die ihre letzten Lebensjahre in der Villa der Familie in Rifferswil zubrachte, für die die Familie eigens einen Hausanbau bewerkstelligte.

Der zweite Teil umfasst die Sätze 4–6. Wieder leitet ein Panoramasatz (Joueurs de cor des Alpes sur le lac de Lucerne – Alphornbläser am Vierwaldstättersee) in zwei weitere Sätze über: 5. „Un enfant suisse en grand voyage de découverte“ (Ein Schweizer Kind auf großer Entdeckungsfahrt) und 6. Un gardien et protecteur avec du cœur et de l’humour (Hüter und Bewahrer mit Herz und Humor). Die erste große Reise Adelheids, der Tochter von Bernhard und Ruth, im Auto ihres Vaters von der Schweiz über den Balkan in die Türkei sollte prägend für ihre Neugier und Lust am Fremden sein. So hebt der 5. Satz als Tanzreise mit einem Schweizer Ländler an, setzt dann mit jugoslawischem Kolo und griechischem Rembetiko bis zu einem anatolischen Asak fort, während im anschließenden 6. Satz Felix, ihr Ehemann, mit einer Sarabande und einer Gavotte das bewahrende und behütende Element der Familie charakterisiert.

Den dritten Teil des Divertissements bildet der von zwei Panoramen eingeschlossene 8. Satz, der dem alphornspielenden Bruder von Adelheid, Thomas, zugedacht ist. „Vivre entre tradition et modernité“ (Leben zwischen Tradition und Moderne) charakterisiert eine aufgeschlossene Schweizer Jugend in den 1960er und 70er Jahren mit allen darin enthaltenen Problemen wie allmähliche Verdrängung jugendlich schwärmerischer Träume, der Qual einer Berufswahl und dem Ordnungsapparat des Militärdiensts. Tänzerische Elemente, ein sprunghaftes Klarinettensolo und ein pseudopatriotischer Marsch sind Teile dieses sich stets weiter entwickelnden Satzes. Umgeben wird der Satz von zwei Panoramasätzen, dem 7. Satz „Randonée dans la neige entre Rifferswil et Knonau“ (Schneewanderung zwischen Rifferswil und Knonau) und den 9. Satz „Beatenberg – une vue sur les glaciers de l’Eiger, du Mönch et de la Jungfrau“.

Der vierte Teil umfasst die Sätze 10–12, die dem Wesen der drei Kinder der Familie nachspüren. Der Titel des 10. Satzes „La curiosité pour l’histoire et l’actualité“ (Die Neugier auf Geschichte und Gegenwart) zeichnet den Lebensweg des erstgeborenen Sohns Oliver nach, dem als Teenager im familiären Stress das Schlagzeug Refugium wurde: daher auch der tänzerische Gehalt und ein Geräuschteil mit heulendem Saxophon. Lockerer, fast vergnügt dann die Faktur des 11. Satzes, „Une approche lente et ludique dans les nuages de la sensibilité“ (Langsame und spielerische Annäherung im Dunst der Sensibilität). Der Tochter der Familie Susanna gewidmet, atmet er an seinem Ende geradezu in einsamer Zärtlichkeit aus, um dem forschen, ambitionierten 12. Satz Platz zu machen, der dem jüngsten Spross der Familie, Pascal – einem Umweltforscher und Techniker – zugedacht ist: „La guerison de la nature et de l’âme“ (Die Heilung der Natur und der Seele). Ein Satz, in dessen Verlauf auch ein weit ausschwingendes, suchend erscheinendes Saxophonsolo auftaucht.

In einem letzten Teil umrahmen wieder zwei Panoramasätze zwei darin eigebettete Porträtsätze. Das 5. Panorama, dem insgesamt 13. Satz mit dem Titel „Le Mont Blanc et la Bise“ lässt den klirrend kalten Wind zu spüren, der von den Gletschern des Mont Blanc herunterweht. „Un médecin passionée et un cuisinier gourmet“ (Die leidenschaftliche Ärztin und ein Gourmetkoch), so heißt der 14. Satz. Unsere Ärztin kurvt in ihrem Alfa Romeo durch die Schweiz, um Leben zu retten, während ihr treuer Gefährte ein Gourmetessen nach dem anderen zaubert, um sie mit seiner Kochkunst aktiv und lebensfroh zu halten. Im 15. Satz „Les amis de la famille“ (Die Freunde der Familie) treten nach einer einleitenden Polonaise nacheinander Dr. Reto Cadisch, „Ricarda“ Kolkmann, Benno Hegi und Prof. Dr. Bruno Truniger auf. Kürzere, tänzerisch ironisierte Teile charakterisieren die Gestalten aus Vergangenheit und Gegenwart, wobei rhythmische Formeln und Entwicklungen Floskeln der ersten Sätze wieder aufgreifen und neu variieren und kombinieren. Anklänge an Jazz und eine abschließende Mazurka entwickeln sich zu einem fff-Höhepunkt, dem als Abgesang noch ein verflochten gespaltener Choral als Überleitung zum letzten Satz, dem sechsten und letzten Panorama, folgt. „Vue sur les Alpes au départ de l’avion“ (Blick auf die Alpen beim Abflug), so der Titel dieses 16. Satzes, dem die Hauptaufgabe obliegt, die komplexe Harmonik des Werks ins Nichts aufzulösen, in die entfernteste, leiseste Dynamik, von der Sechs- in die Einstimmigkeit, vom tiefen ins höchstmögliche Register auszudünnen und sich zu verflüchtigen.