Auftragswerk des Bayerischen Rundfunks (= Münchner Fassung mit dem Titel »Noah und die Sintflut«)

Besetzung: Sopran (Stimme Gottes), 4 substituierende Soprane (solistischer Kammerchor für die Stimme Gottes), Bass (Noah), großer gemischter Chor * und Orchester **
Aufführungsdauer: ca. 1 Stunde, 30 Minuten

Uraufführung der Erstfassung: am 27. Juni 2003 durch das Münchner Rundfunkorchester und den Chor des Bayerischen Rundfunks unter Marcello Viotti (im Zyklus »Paradisi Gloria«)

endgültige Fassung: fertiggestellt 2008

* je nach Möglichkeit 12 oder 24 Soprane, 12 oder 24 Altstimmen, 12 oder 24 Tenöre, 12 oder 24 Bassstimmen
** 3 (auch Piccolo- und Altfl.) - 2 - 3 (auch hohe und Baß-Klar.) - 2 (auch Kontrafagott) - 3 - 2 - 3 -1, 1 Harfe, 1 Celesta, 1 Klavier, Percussion (4 auf der Bühne, variable Anzahl von Schlagzeugern um die Bühne oder den Ort herum aufgestellt – mindestes 4 bis 64, kann auch von 2 Synthesizern gespielt werden); Streicher: je nach Möglichkeiten 8 oder 12 Vln I, 8 oder 12 Vln II, 8 oder 12 Bratschen, 4 oder 6 Celli, 4 oder 6 Kontrabässe

Hörproben:

René Staar - Hammabbul - Passagierliste


1. Passagierliste Arche Noah

René Staar - Hammabbul - Ertränkte Welten


2. Ertränkte Welten

Münchner Rundfunkorchester und Chor des Bayerischen Rundfunks unter Marcello Viotti

Partitur (Ausschnitte, Pdf)


Eine kurze Einführung zur Partitur:

Mit Hammabbul (hebräisch: Die Sintflut) entstand ein Werk, das verschiedene Entwicklungsstränge umfasst, die einander überlappen und sich unterschiedlich verhalten. Zwar ist das Werk in einzelne Nummern geteilt und letztendlich auch in drei große Teile, aber jede Nummer, jeder Teil, ist nicht bloß Teil einer singulären Entwicklung, sondern verschiedenster kleinerer Prozesse und vieler ineinander fließender Details.

Gleichbedeutend mit dieser Idee ist die immer neu erfundene musikalische Textur, die sich selbst ständig weiter entwickelt, vor allem die Idee einer harmonischen Metamorphose, die verschiedene logische Entwicklungsansätze aus einem Band von zehn fünfstimmigen Akkorden herausfiltert, das Gott als nie veränderbare Konstante symbolisiert.

Welche Beziehungen zwischen diesen Akkorden bestehen, die verschiedenen Prozesse seiner Teilung und Verarbeitung, aber auch eine eingehende Analyse des Textes und seiner Beziehung zu Harmonik und Melodik dieses Harmoniebandes, müssen einer spezielleren Publikation, als dies eine Einführung zur Partitur sein kann, vorbehalten werden.

Vor allem in den Teilen der Stimme Gottes wird die Bedeutung der Textur sichtbar. Akkorde werden hier nicht einfach aufgestellt, sondern sind vom Komponisten quasi auf dem Webstuhl fabriziert worden. Dieses gewobene Material scheint in vielerlei gegeneinander bewegten Mustern auf. Diese werden entweder als permanenter Klang (vor allem in oft geteilten Streichern) oder als punktueller Klang (Muster von vielen pizzicati und staccati), aber auch als Muster unterschiedlicher Tondauern, zuweilen auch als Muster unterschiedlich dauernder gegeneinander verschobener Flächen gebraucht. Stets stellen sich die Muster auf die Zeitdauer der Gesangstimmen ein, zuweilen aber dringt die Textur auch in die Solostimmen, vor allem die substituierenden Soprane ein, ja, die Muster werden auch gleichsam zum Vorbild für melodietragende wiederkehrende Analogien.

Die ganze Struktur des Werks ist jedoch auf einem Dualismus zwischen der Noah fordernden Stimme Gottes und allen anderen lautlichen Elementen aufgebaut, die von den Vokalisten geformt und dargebracht werden. Zum einen ist dies eine konkrete Manifestation des göttlichen Willens und seines Auftrags an Noahs, zum anderen die Entwicklung einer menschlichen Sprache vom Urlaut bis hin zu einer synthetischen Silbensprache.

Doch wie macht sich Gott Noah verständlich? In welcher Sprache spricht Gott zu Noah? Dieses Dilemma führte zu der Idee des Komponisten, der Stimme Gottes fünf vokale Stimmen zuzuordnen, eine dramatische Stimme, die wahlweise in einer von fünf Sprachen singt, und vier Stimmen, die, einem Motetten-Chor nicht unähnlich, in den vier von der dramatischen Stimme ausgelassenen Sprachen eine quasi polyphone Echostruktur ausführen. Daraus folgt, dass der Komponist innerhalb desselben Werks fünf verschiedene Fassungen realisiert hat, die er als Stimme Gottes fünf Sopranen anvertraut hat.

Noah hingegen artikuliert lediglich seine Hilflosigkeit, seine Ehrfurcht, sein Staunen vor Gott, auch einmal seinen Groll darüber, von den Menschen behindert zu werden in seinem von Gott erteilten Auftrag, die Arche zu bauen vor der Sintflut, nur mit wenigen Lauten. Am Ende aber verwendet er den Vokal, den alle außer Gott bis zum Ende aussparten, das O als Symbol des Staunens ob des von Gott geschaffenen Regenbogens als Zeichen seines mit den Menschen eingegangenen versöhnlichen Bündnisses. Die Idee des fehlenden Vokals entspringt der Tatsache, dass die uns bislang älteste schriftlich überlieferte Sprache, das Sumerische, nur vier Vokale, I-E-U-A, kannte. Die Aussparung des O vor dem 3. Teil stellt somit auch die Idee des Unterschieds zwischen dem Vorsintflutlichen und dem Nachsintflutlichen dar.

Der Chor wird dagegen in vielfacher Funktion eingesetzt, zunächst als Menschheit, die in der Sintflut zugrunde geht, später als Geister- und Walgesang, am Ende als Noah unterstützender Engelsgesang. Der Text des Chores entwickelt sich zunächst aus Lauten in eine von der sumerischen Sprache (der ältesten in Schriftdokumenten erhaltenen Sprache) inspirierte synthetische Silbensprache.

Im ersten Chor werden die Vokalisten in vier gleich starke Gruppen von je zwölf (oder 24) Sprechern eingeteilt, die dann fallweise solistisch oder choristisch auftreten, teilweise auch unterstützende denaturisierende Hilfsmittel wie Pappröhren oder Megafone verwenden oder Kleininstrumente wie verschiedenartige Pfeifen spielen. Hörbares Atmen, Lachen oder Schreien in den verschiedensten Nuancen, geflüsterte oder gemurmelte Konsonanten, Blasen in die Handflächen, Schlagen der Hände auf den Mund gehören dabei zum Repertoire dieses »Chors der Verderbnis«.

Während Noah die Arche baut (Nr. 4 am Anfang des II. Teils »Die Arche«), entwickelt der Chor in drei Dialekten (die einen singen mit dem Vokal »a«, die anderen auf »u«, die dritten auf »i«) eine synthetische Sprache. Somit verengt sich die Teilung des Chors auf drei Gruppen.

Die von Gott aufgetragene Beladung der Arche (Nr. 6 »Passagierliste Arche Noah«) begleitet der Chor – diesmal in 2 vierstimmigen Gruppen – mit dem Nachmachen von Tierlauten. Im Spottchor (Nr. 7a) verengt sich dieses Spektrum schließlich auf einen einzigen vierstimmigen Satz.

An diesem Beispiel kann man erkennen, dass sich die Prozesshaftigkeit des Stücks bis ins kleinste Detail der Arbeit erstreckt.

Doch auch der Mikrokosmos dieser großen Partitur ist nur als Teil zu begreifen, als Teil eines kleinen selbstgeschaffenen Universums, das verschiedenste Stücke vom Duo bis zum großen Chor-Orchesterwerk zusammenfasst, die der Komponist in seinem Op. 22 sammelt. Ein quasi musikalischer Zyklus durch verschiedenste Gattungen der Musik, dem allerdings auch ein starker zentraler Gedanke innewohnt: die Entwicklung einer neuen Harmonik, die auf der Umschichtung von Akkordintervallen beruht. Man kann also, wenn man will, Hammabbul auch als meinen kleinen Beitrag zu einer Harmonielehre des noch jungen neuen Jahrhunderts verstehen. {René Staar, Wien, im Dezember 2007}